Erwin Kirschstein

Erwin
Kirschstein

13.01.1934
Radungen
-
22.03.2015
Bad Lausick

stimmungsbild

Gedenkseite für Erwin Richard Adolf Kirschstein

Erwin Kirschstein wurde im Winter am 13. Januar 1934 in Radungen geboren und starb am 22. März 2015 mit 81 Jahren in Bad Lausick. Er wurde im Tierkreiszeichen Steinbock geboren.

Mein letzter Brief an Dich ......

Lieber Vater, mit meinen letzten Worten an Dich möchte ich ein ganz persönliches Anliegen, das mir seit einer Ewigkeit schwer auf der Seele liegt, abzuschließen versuchen. Auch wenn Du nicht mehr unter uns weilst weiß ich, dass es auch Dein Wunsch gewesen wäre, dies zu tun.

Das Thema ist schwierig, eine komplizierte uralte Geschichte, die doch so leicht hätte Aufklärung finden können, hätte, ja hätte. Und hätten wir in den letzten Jahren die Klärung versucht, wären wir über unsere Schatten gesprungen, wie viele gute Jahre hätten wir noch zusammen haben können.
In Deinen letzten Lebenstagen ist es uns doch auch gelungen- und ich frage mich - warum habe ich so viele Jahre verschenkt. Diese Frage wird mich für immer beschäftigen.

Es war eine verhängnisvolle Entscheidung, die ihr mir am 28. April 1983 mitgeteilt habt. Sie sollte mein gesamtes weiteres Leben beeinflussen und an den Folgen habe ich schwer zu tragen gehabt, über viele Jahrzehnte.
Heute weiß ich, nicht nur ich habe schwer daran getragen, auch für euch war es mit den Jahren die vergingen nicht mehr leicht, mit den Folgen dieser Entscheidung umzugehen.

Ich konnte eure Entscheidung damals nicht verstehen, ich war doch noch so jung und mir keiner Fehler bewusst, aber ich habe versucht sie zu respektieren und zu akzeptieren und habe mir ein Leben in der Ferne aufgebaut.

Mehr als drei Jahrzehnte sind inzwischen vergangen. Das Leben ging seinen Gang, keiner von uns hat jemals einen Schritt auf den anderen zu getan und irgendwann ging praktisch gar nichts mehr. Kaum noch Besuche, kaum noch Kontakte, Funkstille. Ich kam nur zu Besuch, wenn ich eingeladen wurde - und das war selten. So ist die Zeit vergangen, sind uns die Jahre durch die Finger geronnen.

Als ich jetzt im Februar von Deiner schweren Erkrankung hörte, da begriff ich, dass das Leben endlich und es allerhöchste Eisenbahn ist, wenn ich überhaupt noch etwas klären und vor allem, wenn ich Dich nicht einfach so von der Welt gehen lassen wollte – mit diesem riesigen Graben zwischen uns.

Ich hab dich im KKH besucht und was soll ich sagen, es war doch alles so einfach.
Ich habe meine Hand auf Deine gelegt, du hast die Augen aufgemacht und ich habe gesehen, wie trotz des schweren Kampfes, den du bereits um dein Leben führen musstest, die Freude in deine Augen trat. Du hast meine Hand gestreichelt, das hast Du früher nie getan.

In den Folgetagen habe ich dich oft im KKH besucht und du hast bei jedem Besuch geredet, über unser Leben, über früher, Du wolltest mir so viel sagen, die verlorenen Jahre nachholen. Was du erzähltest konnte ich zuordnen, es waren Begebenheiten aus unserem Leben zu den Zeiten, als ich noch ein aktiver Teil davon war.

Wie ich mit dir sonntags mit dem Mannschafts- LKW zum Fußball gefahren bin (da war ich vielleicht vier), wie ich Biele Holger mal auf dem Weg von der Schule nach Hause verprügelt und ihm alle Knöpfe vom Hemd abgerissen habe, weil ich meinen Bruder beschützen wollte - da war ich vielleicht 5. Klasse, dass ich mit zwei Fingern
auf der Schreibmaschine von Tante Grete schneller schreiben konnte als Gerhadt` s Egon mit der Hand, da war ich kaum 10 – und noch vieles andere mehr.

Erstaunlich, was Du alles noch so von mir wusstest und sofort abrufen konntest. Wir mussten einige Male herzlich lachen.
Aber auch Erinnerungen aus deiner Kinderzeit kamen hoch, die Flucht und der schwere und bettelarme Neuanfang in der neuen Heimat. Das war besonders schmerzlich für mich, denn aus Deiner Kinderzeit und von der Flucht, da hast Du uns als wir selber noch Kinder waren nie etwas erzählt.

Nicht zuletzt hast Du mir im KKH auch einige Aufträge mitgegeben, die ich unbedingt mit meinen Geschwistern noch zu erledigen habe und auch Informationen, die ich ihnen von Dir noch weitergeben sollte. Das alles, lieber Vater, werde ich zu gegebener Zeit erledigen. Das habe ich Dir versprochen und so werde ich es auch tun- und ich hoffe meine Geschwister hören mir zu.

Was ich aber sofort tun werde ist, mich bei Dir bedanken, dafür dass Du auf mich gewartet und mir damit die Gelegenheit gegeben hast, Frieden mit Dir zu schließen und den Graben zwischen uns zuzuschütten. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen wäre, jemals in meinem Leben wieder Ruhe zu finden, wenn ich diese Gelegenheit nicht bekommen hätte. Danke lieber Vater. Es tut mir so unendlich leid, dass uns keine Zeit mehr geblieben ist.

Was mir in Erinnerung bleiben wird, das sind Eigenschaften von und Begebenheiten mit Dir, die sich mir für den Rest meines Lebens ins Gedächtnis brennen.

Nehmen wir z.B. die Tatsache dass Du „eine sture ochsige Kirsche“ gewesen bist. Du warst eine, Du hast der Bezeichnung alle Ehre gemacht, Du warst für Deine Umwelt kein rundes NICHTS, sondern ein eckiges ETWAS. Am liebsten hast Du Deinem Willen durchgesetzt und am besten direkt mit dem Kopf durch die Wand.
In diesem Punkt bin ich Dir von all Deinen Kindern wohl am ähnlichsten, ich bin auch so ein eckiges ETWAS und ich hatte es damit im Leben – vor allem als Kind und Jugendliche – wirklich nicht leicht.
Wie hätte das auch funktionieren sollen, wenn mehrere „ochsige Kirschen“ – Du und ich und dann noch mein jüngerer Bruder - mit den Hörnern aufeinander losgehen und jeder sich durchzusetzen versucht.
Das war bestimmt nicht immer schön. Wir waren sicher eine rechte Plage für unser Umfeld, für unsere Mutter, für Oma Gertrud und Opa Martin, für Alfred, für Petra und Bodo.

Aber weißt Du was, auch uns nachfolgende Generationen werden von dem „ochsigen Kirsche-Gen“ nicht verschont sein. Zwar ist das bei meinen beiden Kindern nicht gar so ausgeprägt – obwohl in den Ansätzen erkennbar – dafür hat aber mein zweites Enkelkind, der kleine Nils, fast 6 – aber so was von voll dieses Kirsche- Gen mit der Breitseite geerbt.
Ich erinnere mich, als Du ihn auf Nicoles Hochzeit hast über die Hecken springen sehen und sein Papa ihn immer zur Ordnung rufen wollte- und Nils das doch immer wieder tat, da hast Du selber zu meinem Schwiegersohn gesagt…“lass das Kind, das ist eine richtige Kirsche und deshalb kann er nicht anders…“. Recht hast Du, an dem kleinen Mann werden wir echten Kirschen noch unsere echte Freude haben.

Dann muß natürlich Deine Leidenschaft für Fußball erwähnt werden. Zeit deines Lebens hast Du gerne Fußball gespielt und später, als es mit dem selber Spielen nicht mehr so gut ging, dann warst Du als Schiri unterwegs und hast im Fernsehen kein Spiel verpasst.

Wenn es in meiner Jugend schon Frauenfußball gegeben hätte, dann hätte ich sicher auch Fußball gespielt. Ich konnte das gut und Dein Kumpel, Herr Landgraf, mein Sportlehrer, hat das auch immer gesagt. Aber Frauenfußball war damals noch verpönt. Heute ist das anders, Deine jüngste Enkeltochter macht dabei eine gute Figur (und natürlich auch Tore). Die beiden Kinder deiner ältesten Enkelin, Deine Urenkel Tim und Nils, sind begeisterte Fußballspieler wie Du einer warst– und auch im Fernsehen verpassen sie- wenn sie dürfen- kein Spiel. Sie werden sicher mal in Deine Fußstapfen treten. Schade dass Du das nicht mehr erlebst und unseren Timmi nie hast spielen sehen.

Was auch unbedingt angesprochen werden muss, das ist deine Leidenschaft für`s Kochen. Du hast uns, zusammen mit der Mutter, eigentlich immer bekocht. Und ich kann mich daran erinnern, dass es auch immer lecker war.
Meine Kinder werden u.a. aus diesem Grunde ihre Sommerferien bei Oma und Opa nie vergessen, Sommerferien, in denen gekocht wurde was die Kinder wollten. Wer hatte so was schon. Landferien mit jeden Tag Wünsch Dir was Lecker Essen…..
Rouladen und Hasenbraten, Riesenhefeklöße…….
Es wird mir immer in Erinnerung bleiben wie der „Nachwuchs“ an den ersten Hasenbraten herangeführt wurde. Meine Erinnerungen reichen zurück bis zu Bodo, setzen sich über Anne, Daniel, Nicole und Sina bis hin zu Michelle fort. Es war immer dasselbe.
Jedes Kind bekam bei seinem ersten Hasenbraten ein Vorderläufchen, dann kam die immer gleiche Frage „was ist denn das“, darauf die Antwort „das ist Hasenbraten“, dann wurde das Vorderläufchen abgenagt…und dann kam der verständnislose Blick auf den Knochen und die Ansage „Papa/Opa, das ist kein Hase, das ist eine Ente“.
Diese Deine Leidenschaft für` s Kochen in großer Runde wird sich in Deinem Enkelsohn fortsetzen. Er ist ein guter Koch, weniger mit Gourmetessen, vielmehr Hausmannskost mit ganz viel Geschmack und für ganz viele Leute. Er führt das fort was er über Jahre in seinen Schulferien bei seinem Opa gesehen und gelernt hat.

Und außerdem wirst Du immer in Daniels Erinnerungen sein Moped-Opa bleiben, der ihm das Moped fahren beibrachte und ihn auf den Feldwegen um Niedergräfenhain herum Moped fahren ließ. Meine beiden Kinder verdanken Dir, und das sagen sie auch jetzt, nach vielen Jahren, noch, wunderbare ganz tolle unvergessliche Ferien.
Auch aus diesem Grunde ist es mir ein Bedürfnis, Dir noch eine Information auf Deinen letzten Weg mitzugeben (und diese gilt auch für unsere Mutter):
Wenn ich auch in meinen Kinder- und Jugendjahren sicher vieles zu vermissen glaubte, wenn ich mich oft ungerecht behandelt fühlte und unglücklich war – seid sicher, ihr habt alles das an meinen Kindern doppelt und dreifach wieder gutgemacht (wenn man überhaupt von notwendiger Wiedergutmachung sprechen kann, denn vieles war damals einfach der Zeit und den Umständen in den 60-ern und 70-ern geschuldet).

Bevor ich nun gleich zum Ende komme möchte ich noch meine kleine Schwester erwähnen. Du lieber Vater hast mir, als wir noch Kinder waren, manchmal zu verstehen gegeben, dass Petra Dein Lieblingskind ist. Ich war immer neidisch auf sie und traurig darüber, dass ich nicht das Lieblingskind war. Meinen Brüdern ging es vielleicht ähnlich.

Jetzt, in Deinen letzten Lebenstagen, hat sich aber für mich gezeigt, dass Du damals eine unbewusst richtige Wahl getroffen hast (auch wenn man eigentlich bei mehreren Kindern keines bevorzugen und nicht von einer Wahl reden sollte):
Aber unsere kleine Schwester war immer bei Dir, in Deinen schweren Stunden im KKH, danach zu Hause und auch im Pflegeheim in der Kurzzeitpflege, die Du leider nur noch einen einzigen Tag richtig genießen konntest. Sie hat sich um Dich gesorgt, sie hat Dich versorgt (ich sage nur Pudding und Banane) und sie hat Deine Hand gehalten bei Deinem letzten schweren Kampf - sie war bei Dir bis zum Schluss.
Sie hat sich auch in diesen Tagen um unsere Mutter gekümmert und ihr Trost gespendet und Zuwendung entgegengebracht, obwohl sie dies alles selber auch bitter nötig gehabt hätte.
Ich denke, dafür gebührt ihr Dank und uneingeschränkte Anerkennung – ich weiß nicht, ob ich in dieser Situation so stark gewesen wäre und das alles so gekonnt hätte wie sie.
Danke- liebe Petra. Danke auch an Dich, Heiko, dass Du alles mitgetragen hast.
Danke auch an meine Geschwister und deren Partner, dass sie sich in der Zeit, in der ich in der Ferne zu Hause war und zwischen uns kaum Kontakt bestand, immer um Dich und unsere Mutter gekümmert haben.

Und nun, lieber Vater, denke ich dass ich wirklich zum Ende kommen sollte.
Ich danke Dir von ganzem Herzen dafür, dass Du mit dem Antritt Deiner letzten Reise auf mich gewartet und mir damit die Gelegenheit gegeben hast, ein altes Missverständnis für uns beide aufzuklären und für immer auszuräumen.
Du gibst mir damit die Möglichkeit, meine innere Ruhe wiederzufinden und mein Leben in halbwegs inneren Frieden weiterzuführen.
Ich verspreche Dir, dass ich mich gemeinsam mit meinen Geschwistern um unsere Mutter kümmern werde, dass sie nicht alleine sein wird, auch wenn Du sie jetzt zurücklässt.

In unseren Gedanken und in unseren Erinnerungen wirst Du weiterleben und immer bei uns sein- so wie Du warst – mit großem Herzen, mit sorgenden Händen - bei allem was wir tun werden wir uns daran erinnern.

Wer so ein gutes Herz besessen,
wer so gesorgt für uns wie Du
den kann man niemals mehr vergessen
nun, lieber Vater, schlaf in Ruh.