Wolfgang Reuter

Wolfgang
Reuter

10.12.1925
Breslau
-
04.01.2023
Berlin-Wilmersdorf

Stimmungsbild-Wolfgang-Reuter-5

Gedenkseite für Wolfgang Reuter

Wolfgang Reuter wurde im Herbst am 10. Dezember 1925 in Breslau geboren und starb am 04. Januar 2023 mit 97 Jahren in Berlin-Wilmersdorf. Er wurde im Tierkreiszeichen Schütze geboren.

„Grün, wie ich Dich liebe, … Du schöner grüner Jungfernkranz“

(LORCAs Gedicht SOMNAMBULE ROMANZE und Chor der Brautjungfern, aus dem Freischütz, 3. Akt)

Musik: 6 Moments musicaux, Op. 94, D.780: Allegro Moderate von Franz Schubert (dazu Projektionen auf die Dialeinwand. Die Schallplatte hat er sich 1974 von mir zum Geburtstag schenken lassen. Es ist eines der Stücke, die sein Vater Willy in den frühen 40er Jahren in Breslau öffentlich gespielt hat!)
https://open.spotify.com/track/3eEjocvDCGx1Jj2t28gSWp?si=zXfNNLFNSZOGq6OfpwCzqQ

Ouvertüre

Fast ein ganzes Jahrhundert! Unser lieber Vater, Opa, Onkel, Schwiegervater, Freund, Kollege hat sich auf seine letzte große Reise begeben.

Ich möchte euch einen kurzen Einblick in seine Welt aus Zahlen, Zeichnungen, Fotografien, Assoziationen und Anekdoten geben. Dankenswerter Weise hat er mich und uns dafür bestens ausgestattet und so habe ich in den beiden Wochen in seinen tatsächlich 100 Skizzen- und 97 Tagebüchern, in unzähligen Briefen mit hunderten von Kritzeleien, viele Hinweise und Erinnerungshilfen gefunden.

Zeitlebens hatte er eine große Leidenschaft für Literatur, Kunst und deren Geschichte und war begeisterter Hörer und Kenner klassischer Musik, auch wenn er in den letzten Jahren (im doppelten Sinne) immer weniger gehört und gelesen hat, dafür eher zum Sammler von Naturmaterialien und vielem anderen geworden ist.

Analog zu seinen Leidenschaften habe ich versucht sein Leben in Akte zu unterteilen. Angepeilt hatte er sicher nicht mehr als drei, wie es die meisten seiner geliebten Opern kennzeichnet (seine hochgeschätzte Zauberflöte hat soogar nur deren zwei). So sind es bei ihm wohl eher fünf geworden (eine gewisse Akt-verlängerung, zu der ich noch kommen werde)

1. Akt Kindheit und Jugend 1925 – 1943 (18 Jahre) Exposition

Sein Pseudonym, sein Kunstname war seit den 70er Jahren Balwo Breslauer.
Breslau und sein Rathaus, x-mal von ihm gezeichnet und mehrfach, zuletzt 2016 zusammen mit uns besucht, was beides auch die Trauerkarte ziert. Geboren ist er in der Gallestr. 26, deren Hausbewohner er - genau wie die Nachbarn des Schrebergartens - zeitlebens namentlich genau aufzählen und zuordnen konnte.
- Am Tage seiner Geburt wurde der Nobelpreis für Literatur an George Bernard Shaw vergeben, im selben Jahr, schrieb Franz Kafka den „Prozess" und André Breton das „Surrealistische Manifest", Otto Dix malte die Tänzerin Anita Berber, Feininger den „Torturm" und Kokoschka die „Towerbridge in London". Es starben Lovis Corinth und Rudolf Steiner. Und der Film seines Jahres war „Goldrausch" mit und von Charlie Chaplin.
- Genau so alt wie er sind ferner der Berliner Funkturm und das Haus, in dem er seit seiner Pensionierung, man kann es schon so sagen, „hauste“, in dem jetzt seine Enkeltochter Leila und einstens auch Heinz Rühmann wohnte(e).
- Ferner heißt die Hauptstadt Norwegens genau so lange, wie er lebt, Oslo (früher Christiania).

- Seine Lieblingsfarbe war, wie die unzähligen grünen Flaschen und Gläser, die er sammelte, Grün, in seinen Anzügen allerdings eher braun, analog zu den Tieren Esel, Tiger und Eule, mit denen er sich zeichnerisch und literarisch oft identifizierte (erst immer sanftmütig wie ein Esel, dann plötzlich laut und gefährlich wenn er sich angegriffen fühlte und nachts und besonders im Alter wurde er zur brillant sehenden Eule)
- Kindheit und Jugend in Schlesien mit seinen Eltern Charlotte und Willi, wohnend am Stadtrand im gleichen Haus mit Onkel, Tante und Großmutter, die behütete Kindheit mit Schrebergarten, Klavierstunden und der geliebte Turnverein Eichenlaub – alles änderte sich dann mit dem Kriegsausbruch 1939…

2. Akt Krieg, Gefangenschaft und Wanderjahre (20 Jahre) Komplikation

Er musste dann - wohl alles andere als freiwillig - mit 17 Jahren zum Wehrdienst und damit in einen Krieg, den er genauso wie sein Vater ablehnte und der seine kleine Familie auseinanderriss. Es führte ihn erst nach Moulin in Frankreich, schließlich nach Finnland und Nord-Norwegen, dann auf dem Rückzug zu Fuß durch Lappland und schließlich landete er in russischer Kriegsgefangenschaft in Minsk.
Den verlorenen Jugendjahren folgte der Versuch der Aufarbeitung durch das Schreiben Schwejk-artiger Geschichten, Tagebücher und Zeichnungen, was ihn nie mehr loslassen sollte.
- Intermezzo und Wanderjahre durch Baden Württemberg (Dillingen, Freiburg, Stuttgart), Bayern (Kempten, Erlangen und Eichstätt) und schließlich Gelsenkirchen folgten (Studium in Germanistik, zeitweise sogar evangelische Theologie und schließlich Kunstgeschichte)
⁃ Geschichte der W.R.s: Wolfgang Reuter wurde schließlich von Walter Rehm mit seiner Dissertation über Wilhelm Raabe promoviert.
⁃ Es folgten Volontariat beim Südwestfunk Stuttgart, Leitung von SBZ-Abiturientenlehrgängen in Stuttgart und das Bibliotheksstudium in Marbach,
⁃ Er wurde Leiter einer fahrenden Bibliothek in Gelsenkirchen und lernte auf einer Zugfahrt unsere Mutter, Mathilde Marte Mattern kennen. Erhalten sind viele Briefe und unzählige Geschichten, Hochzeit (3.6.1960),

3. Akt. Familie und Berlin (25 Jahre) Peripetie

Leitung der Stadtbücherei Wilmersdorf, Geburt von David und Dinah
- Angekommen sind sie 1964 am Volkspark, Mathilde bereits hochschwanger. Sie wurden Eltern, erst von David, dann von Dinah, bauten sie sich langsam einen illustren Freundeskreis aus verschiedenen Kreisen auf.
- In Erinnerung sind mir Partys am Volkspark, das Ausdenken von Spielen, auch während langer Autofahrten in den Urlaub, Opern-, Theater- und Konzertbesuche und das gemeinsame wöchentliche Volleyballspielen mit Freunden und deren Kindern im Park.
- Ich erinnre mich an das gemeinsame Austeilen von SPD-Wahlwerbung für Willy Brandt (wo er seit Mitte der 50er Mitglied war)
- Seine Eltern, folgten ihm nach Berlin, verstarben aber schon 1973 und 1974. Dies half auch nur wenig, die geliebte schlesische Küche in unseren Haushalt einzubringen. Einzig die Hühnersuppe an manchem Samstagen brachte er ab und zu ein, das geliebte schlesische Himmelreich mochte keine(r) von uns.
- Sein Belli, wie wir seinen wachsenden Bauch immer nannten, wuchs trotzdem unübersehbar.
- Mit dem Beginn unserer Schulzeit beginnen intensive Beziehungen zu Nachbarn und Lehrer:innen (auch oder gerade denen der eigenen Kinder), der Freundeskreis aus Opernsänger:innen, Architekt:innen, Beamt:innen, Student:innen erweiterte und entwickelte sich.

- Er war ein liebevoller und treusorgender Vater: Unvergessen bleibt für mich die aus Solidarität gemeinsame Mandel OP 1969.
- Dafür hatte er eher wenig Verständnis für die „Schundliteratur“, wie er meine Comics nannte, meinem den Rücken nur krumm machendem Fußballspielen, die vielen Bravos, Plakate an den Wänden und überhaupt den Musikgeschmack des Sohnes.
- „Diego Maradona“ allerdings tönte er 1978 ins Telefon oder er öffnete Freunden in Unterhosen die Tür, was mir alles schrecklich peinlich war.

Kunstreisen nach Prag, Venedig und zu allen möglichen Kirchen und Schlössern auf seinen Wegen. Jede Urlaubsfahrt war eine ausgeklügelte Besichtigungstour unzähliger Altäre, Kloster und Kirchenschiffe und für die Familie oft strapaziös und meist wenig, wie wir es empfanden, kindgerecht.

Er selbst sagte (vielleicht richtiger Weise), er sei kein guter Pädagoge, eher dozierend vor uns stehend oder vor sich her lehrte er eher. Legendär unser beider Latein-Vokabelstreit, der in einer echten Keilerei auf dem väterlichen Teppich endete: „Was heißt animadvertere David?“ „Häh, wie?“, bis heute habe ich diesen Blackout: eben aufmerksam werden!!

Die Ehe ging mehr und mehr in die Brüche und wir Kinder verhinderten geschickt die drohende Scheidung. Wotzi, wie viele ihn nannten über sich selbst in dieser Zeit: „Schallplatten /Musik (an)statt Menschen“, es folgte der innerliche Rückzug und der geplante Höhepunkt:


- Das versuchte Ableben nach genau auf den 20 Jahren nach der Flucht aus der Kriegsgefangenschaft am 27.11.1976:
Freikugeln, Freischütz und die Aufarbeitung seiner Flucht aus der Kriegsgefangenschaft. Aufarbeitung als Kurzgeschichte: Der Betrug
Eine Geschichte, die die vermeintlich nicht verdiente Flucht beschreibt. Die Folge ein war eben ein Packt mit dem Teufel!

- Musik (Der Freischütz, J. 277 / Act III: Entr’acto. Seine Lieblingsoper mit der Verbindung zu seinem freiwilligen Ausscheiden aus dem Leben mit 50 Jahren)
https://open.spotify.com/track/5BWZtUK6mXbB7ydA7F1R5K?si=PqUHJ_MuSRm03kN54MCKjw

- Gemeinsame Zeichenkurse (bei Walter vom Hove), wundervolle Briefe nach Nord- und Westafrika, wo sich der Sohn mit seinem besten Freund Achim auf einer einjährigen Studienreise befand.
- Beginn der Städtetouren und unzähliger DDR-Besuche,
- Fahrer/in gesucht: manchmal sein Freund Achim, des Öfteren seine Freundin Mona, zweimal auch fuhr ich ihn selbst (Leipzig, Dresden, Greifswald…)

Er liebte schicke Klamotten und braune Anzüge, Besuche in der Philharmonie und Oper, Rotwein und sein grünes Glas.
Die „Bilder einer Ausstellung“ in der Akademie der Künste, mein erster Kontakt zu Wassily Kandinsky sollten - wie manches mehr - auch mein Leben prägen

Fristverlängerung in Dekaden: 50, 62, 74, 86, und 98, die fünfte Verlängerung wollte er dann doch weder uns noch er sich selbst antuen! :)

4. Akt (Un-)Ruhestand, Opa, Märchenschreiber, Fotograf und Reisender (20 Jahre) / Retardation
- Sein bildkünstlerisches Schaffen begann spät, eigentlich so richtig erst nach seiner Pensionierung mit den täglich gefüllten Skizzenbüchern, Malreisen in die Toskana, Touren durch die (ehemalige) DDR, Polen, nach Wien, die Türkei, Italien…
- Dauergast war er in der Gemäldegalerie, Mitglied der Neuen Nationalgalerie und immer montags zum freien Eintritt in die Deutschen Guggenheim und zum Mittagessen dann ins Völkerkunde-Museum nach Dahlem
- Kunstausstellungen, die ihn besonders inspirierten waren beispielsweise Cy Twombly, Georg Baselitz, Karl Hofer, Paul Klee…
- 1991 wurde er dann zum ersten Mal Großvater: Meinen ältesten Sohn Raoul Maria Gilgamesch beschenkte er jedes Jahr mit einem selbstgeschriebenen Märchen, auch die Enkeltöchter Leila und Alissa erhalten, sehr viel Liebe, Aufmerksamkeit, Märchen, Zeichnungen und Geschichten
- Er war ein fürsorglicher und verantwortungsvoller Opa, holte sie ALLE von der Kita oder Schule ab und versorgte auch sie mit mancher Kriegs- Geschichte…
- Auch als meine Söhne Nelio und Liam klein waren, war er zunächst noch sehr viel und intensiv als Großvater aktiv (auch wenn schon über 80), auch sie kennen noch seine Geschichten, lachten über Fußbutter und löffelweise gegessenen Wasabi im Restaurant
-
5. Lysis (Epilog) 15 Jahre

- Ein Krankenhausaufenthalt 2008 veränderte seine mentalen Kapazitäten, es folgten Krankheit und Umzug ins Bockelmannhaus 2011 und der Tod seiner Frau Mathild 2012

- Er wurde milder, war, oh Wunder viel glücklicher als früher, ging zu keinem Arzt mehr (früher hatte er wöchentlich mindestens drei Termine) und auch sein diagnostizierter Krebs war vergessen. Sein Radius wurde kleiner, aus dem Botanischen Garten, den er so gerne besuchte, wurde der Volkspark, aus den Opern und Arien wurden kurze gepfiffene oder wie er es beschrieben hätte geträllerte Melodien, verschwunden waren Nietzsche, Hölderlin, Gerhardt Hauptmann, dessen Gesellschaft er in den 80er Jahren noch leitete, kein Goethe, kein Brecht, kein Grass, sein Lieblingsdichter war auf einmal (wieder) Karl May, dessen Bände er immer noch aufzählen konnte. Seine Zeichnungen wurden immer zarter, die verspielten und oft verkopften Titel wurden weniger bis sie schließlich ganz entfielen.
- Seine letzte Zeichnung, am 24.12. letzten Jahres war eine abstrakte Kritzelzeichnung: er konnte und hatte nun losgelassen, seine eigene grafische, zeitgleich immense seelische, Aufarbeitung abgeschlossen.

Dabei hatte er mehrere Leben hinter sich gelassen und vermeintliche Tode gut überstanden
- Tuberkulose im Kindesalter
- Krieg, Lungenentzündung und Kriegsgefangenschaft
- Katzenallergie mit schweren Asthmaanfall und 1. Todestermin 1976 (die Katze hatten wir Kinder ins Haus geholt)
- Autounfall 1986 mit Ausstieg aus dem Heckfenster des Mercedes Coupe
- Schwerer Fahrradunfall, der an einer Laterne und im Krankenhaus endete
- Und Corona mit 96!


Musik: Beethoven Symphony No. 6 in F Major, Op. 68 "Pastoral": V. Hirtengesang. Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm. Allegretto (dazu Projektionen auf die Dialeinwand. Dieses Stück hat er seinen Enkelkindern Leila und Alissa immer vorgesungen und gesummt hat!)
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Danksagung

für seine große Liebe, mit der er uns großgezogen hat, für seinen Schatz an Zeichen- und Tagebüchern, Fotografien und Fotobüchern, Geschichten und Anekdoten.

Aber auch Dank an Leila, Holger und Alissa und vor allem Dank an meine Schwester Dinah, die ihn in den letzten Jahren am meisten gepflegt und so liebevoll versorgt hat. Dank bei meinen Kindern, bei meiner Frau, die oft mit Opa im Park schieben waren und bei allen Umzügen mit dabei waren und Dank an euch, unseren und seinen Freunden, die uns mit eurem Kommen, euren Karten und Wünschen unterstützt habt und uns jetzt so schön begleiten auf diesem letzten Weg mit Opa Wotzi.

Wir werden ihn vermissen, diesen außergewöhnlichen Querkopf, unermüdlichen Zeichner, Geschichtenerzähler und Sammler - Aber er wird - zumindest für uns hier - unvergessen bleiben.

Vielen Dank Balwo Baltasar Breslauer



Berlin, den 20.Januar 2023



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