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von Michaela Schuster am 11.08.2013 - 16:51 Uhr | melden
Das Trauerloch
»Es war einmal eine Frau, die in einem Schloss ein glückliches Dasein führte mit ihrem Gatten, ihrem Sohn und Anverwandten und Freunden. War jemand verzweifelt oder traurig über den Verlust, einer Kuh, eines Hauses öder über den Tod eines Menschen, wusste sie sofort Rat und holte aus ihrer »Erste-Hilfe-Tasche« Trostpflaster (positive Gedanken), Sälbchen (Spruchweisheiten) und Tränklein (Ratschläge).
Es verwunderte sie sehr, dass ihre klugen und geschätzten Arzneien keine Wirkung zeigten - außer, dass sich die Menschen traurig und trostlos von ihr abwandten. Warum waren die zu dumm, ihre mit viel Gutwilligkeit angebotenen Mittelchen anzuwenden?
Eines Tages trug es sich zu, dass Gevatter Tod ihren Liebling, ihren Sohn, von ihrer Seite weg zu sich auf sein galoppierendes Ross riss und mit ihm davonjagte ins Nimmerleinsland.
Sie spürte mit einem Aufschrei die enorme, grausam-schmerzende und blutende Wunde, so dass sie blind vor Schmerz, Wut, Trauer und Kälte ins Wanken und Fallen geriet" und abstürzte in den tür- und fensterlosen, eiskalten und dunkelsten Schacht des Schlosses.
Zerschunden, zerschlagen, blutend und zähneklappernd, zerbrochen und stimmlos schrie sie stumm aus ihrer Dunkelheit nach Hilfe und Rettung - doch niemand konnte sie hören.
Da fiel ihr ihre Erste-Hilfe-Tasche ein - sie versuchte ihre Wunden mit Trostpflaster, ihre Bloßheit mit Sälbchen und ihren schmerzenden Kopf mit Tränklein zu behandeln - aber alles wurde noch schlimmer, schmerzhafter, dunkler.
Endlich fand man sie, ließ Schnüre zu ihr herab - aber sie vermochte sie nicht zu fassen, weil sie viel zu kurz waren. Bei dem verzweifelten Hochspringen war sie noch zerkratzter, zerschundener und verwundeter geworden, und weiterhin saß sie in ihrer bitterkalten Dunkelheit und ätzenden Traurigkeit.
Endlich fand jemand ein längeres, tragfähiges Seil; sie begann sich mühevoll und schwerfällig daran emporzuhangeln, doch sie war zu schwach und kaputt zu diesem Kraftakt. Das Seil flutschte ihr durch die Hände und hinterließ blutige Schnitte. Hilflos, verlassen und un-rettbar in ihrem Trauerloch festsitzend, sich vor Weh krümmend, inwendig vor Kälte festgefroren, vermauert und versteinert, fand sie keinen Weg - und niemand fand einen Weg zu ihr.
Da - eines Nachts, kam im Traum eine Fee zu ihr: »Wenn du einen Weg zu deiner Trauer und aus ihr herausfinden willst, musst du die Aufgabe bestehen, dich aus diesem Loch herauszuarbeiten. «
Trostlos hauchte die Frau: »Die Wände sind glatt und hoch, alle Seile haben nicht gelangt, wie soll ich das mit meinen von Trauer erloschenen Augen, mit zerrissenem Herzen und bedeckt mit Wunden, Schwären, Schnitten und Rissen schaffen? «
Da nahm die Fee die Armselige unter ihren weiten Mantel und wiegte sie so, wie diese ihren Sohn einst wiegte -, und auf einmal lösten sich aus dem versteinerten Gesicht Tränen - die Frau weinte hemmungslos - eine Flut riesengroßer Tränen, die sich sogleich in ebenso riesige Kristalle verwandelten.
In der nächsten Nacht erschien die Fee wieder, strich sanft über die Narben, Wunden und Risse - und unter diesen wundersamen Berührungen floß ein Meer von Tränen aus der Frau, die sich wiederum in große Kristalle verwandelten.
In der dritten Nacht machte die Fee die. Mauern durch Erwärmung mit ihrem Zauberstab durchsichtig und transparent, zeigte der Gefangenen das Leben - ihr Leben. »Hab Erbarmen mit mir, liebe Fee! « Wiederum weinte sie tieferschüttert Berge von Tränen-Kristallen.
Die Fee bedeutete ihr zu arbeiten. Aus den Kristallen erstellte sie Treppenstufen, die zwar risikoträchtig waren, sie oft auch. wieder einige Stufen in die Tiefe abrutschen ließen und ihre Fingerspitzen wund machten. Aber mit viel Vertrauen, Geduld mit sich und genauem Hinsehen gelangte sie allmählich immer weiter hinauf. Ihre Tränentreppe, dieser rettende Schatz, hielt stand. Schließlich konnte sie wieder die Hände ihres Gatten ergreifen - und alle Freunde halfen ihr, sie aus ihrem Trauerloch ins Leben zu holen. Sie hatte einen wertvollen Weg gefunden: ihre Tränentreppe - ihren Trauerweg.
Marion Atzert l Monika Müller