Jörn Schwede

Jörn
Schwede

21.02.1985
Bielefeld
-
22.02.1985
Bielefeld

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ZurückAus dem Kondolenzbuch: Festhalten und Loslassen

von Rainer Schwede am 06.04.2013 - 23:29 Uhr | melden

Es war einmal eine Frau, die stand am Ufer eines Flusses.
Sie hatte gehört, auf der anderen Seite sei das Leben
einfacher, bunter, schöner, aufregender.

"Neuland" hieß die Welt da drüben, und wer davon zu ihr sprach,
dem blitzten die Abenteuer aus den Augen.

Die Frau war nicht zum ersten Mal hier. Immer wieder hatte
ihre eigene Sehnsucht sie an dieses Ufer gelockt,
an dem sie dann mit hängenden Armen gestanden hatte,
zerrissen von der Mutlosigkeit und dem Traum vom ganz anderen Leben.
Ängste und Zweifel hatten dann wie hungrige Ratten an ihr genagt und
ein Chor von "Ja-aber-Stimmen" ihr leises "ich möchte" übertönt.

Sie war immer wieder umgekehrt und hatte sich, nicht ohne Erleichterung,
still in die vertraute Eintönigkeit ihres gewohnten Alltags eingereiht.

Eine Weile hatte sie Schritt gehalten, doch die Unzufriedenheit
mit dem, was sie tat, und dem, was sie unterließ, hatte stetig zugenommen.
Auch die Betäubung durch ihre Versuche, das Unbehagen auszuhalten,
hatte beunruhigend nachgelassen.

Nun stand sie wieder hier, aber diesmal war es anders:
Sie hatte einen riesigen Rucksack, gepackt mit Dingen,
von denen sie sich beim besten Willen nicht trennen konnte.
Er war so groß und schwer, dass sie vom Tragen, Zerren und Ziehen
schon einen großen Teil ihrer Kraft verbraucht hatte.

Aber diesmal wollte sie nicht mehr umkehren.
Das "Neuland" da drüben, das war ihr Ziel.
Sie sah: Keine Brücke, kein Schiff und zum Schwimmen zu weit.
Sie erschrak, als plötzlich fast lautlos das kleine Boot des Fährmanns durch das Schilf glitt.
Der Fährmann war ein eigenwilliger alter Kautz,
der nur manchmal, wenn er Lust hatte, Reisende übersetzte.
Er legte sein Boot an und starrte erst das sperrige Gepäck und dann die Frau an.

"Hast du vor, dich hier mit deinem gesamten Hausstand anzusiedeln?", schnarrte er sie an.
Die Frau sah den Fährmann als einen Wink des Schicksals an.
"Nein, nein, ich möchte nur auf die andere Seite des Flusses,
und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich hinüberbringen würdest."

Der Alte krächzte bissig: "Dich überzusetzen wird wohl angehen;
doch "Neuland" betritt man nur mit leichtem Gepäck.
Da wirst du dich erst noch von einigem verabschieden müssen."

Die Frau schaute erschrocken auf ihren Rucksack.
"Aber ich habe doch schon nur das Nötigste eingepackt.
Ich kann mich doch nicht von all dem Vertrauten trennen!"

"Wer neu anfangen will, kann nicht gleichzeitig am Alten festhalten.
Die Requisiten der Vergangenheit sind Ballast, der Neues behindert und verhindert.
Erst wenn du bereit bist, loszulassen, wird dein Geist für neue Wege frei.
Mit deinem alten Gepäck kannst du bis ans Ende der Welt laufen,
du wirst dich doch immer wieder nur im Altvertrauten einrichten
und dich letztlich keinen Schritt hinaus bewegen.
Nein, meine Liebe, du wirst dich entscheiden müssen, wenn du "Neuland" erobern willst."
Erstaunlich behände sprang er ans Ufer und legte sich genüsslich ins Gras.

In der Frau kam Panik auf. Sicher, sie könnte jetzt einfach wieder umkehren.
Wie schon so oft. Eigentlich war es doch gar nicht so schlimm. Es ließ sich schon irgendwie aushalten ...

"Ja, ja, die vertraute Hölle", murmelte der Alte, als könne er Gedanken lesen.
"Es ist alles ganz schrecklich, aber so beruhigend vertraut!"

Er hat ja so recht, gestand sich die Frau nunmehr wütend ein.
Sie zerrte an der Schnalle ihres Rucksacks und öffnete ihn. Was quoll da alles heraus:
So viele Ängste und Zweifel, ausgeleierte Gewohnheiten, Zaudern und Zögern,
vergilbte Träume, Ausgedachtes und Verworfenes, brüchige Ideale, verschnürte Pläne,
veraltete Glaubenssätze, ein Sack Bequemlichkeit, sperrige Zwänge, knöcherne Vernunft,
bittere Entsagungen und verpasste Möglichkeiten ...

Die Frau saß da inmitten ihrer zweifelhaften Schätze und ließ endlich ihre ungeweinten Tränen frei.
Sie betrauerte ihr ungelebtes Leben, dem sie bisher so wenig Chancen eingeräumt hatte.
Wie Zinnsoldaten hatte sie die Regeln und Normen um sich geschart,
hatte eherne Mauern hochgezogen, damit nicht Unbekanntes sie beunruhigen konnte.
Dass sie sich auf diese Weise zuverlässig und berechenbar ihr eigenes Gefängnis schuf,
nahm jetzt in ihr als Erkenntnis Form an.

Der Rucksack war jetzt fast leer. Noch tränenblind holte sie zwei unscheinbare,
schon leicht angestaubte Päckchen hervor.
Sie hatten wenig Gebrauchsspuren: Es waren Neugier und Zuversicht.

In aller Deutlichkeit spürte sie, dass diese Kostbarkeiten
unabdingbare Weggefährten auf ihrer Reise sein würden.
Schnell packte sie ihre Schätze wieder ein und schnürte entschlossen den Rucksack zu.
Geräuschvoll zog sie die Nase hoch und fragte mit klarer Stimme: "Gehen wir?"

Leise lächelnd löste der Fährmann das Boot vom Ufer.

Inge Wuthe

Rainer Schwede
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